Medizin nach Zahlen


Die wachsende Schar der Quantified-Self-Bewegung presst mit technologischen Mitteln Körper und Geist in Zahlen. Die Selbstvermessung könnte ein Ausblick auf die Zukunft der Medizin sein.


November 2013



Für Organisationen gehört das Messen und Zählen von Dingen seit jeher zum Natürlichsten der Welt, werden auf diese Weise doch Fortschritt und Zielerreichung im Auge behalten. Bei Individuen ist es eher die Ausnahme, den Tagesablauf numerisch abzubilden. In jüngster Zeit verfallen jedoch mehr und mehr Menschen der Ausdruckskraft von Zahlen, um die Koordinaten ihres Lebens zu bestimmen: Schlafmuster und Aktivitätslevels, Kalorienaufnahme und Alkoholkonsum, Sport- und Lernerfolge. Quantified Self nennt sich die weltweite Bewegung, deren Anhänger sich selbst und ihren Alltag vermessen und eine Optimierung des gesamten Lebens ansteuern.

Beim Streben nach Perfektion hilft die Technologie: Sensoren sind heute klein und billig, Beschleunigungsmesser sind routinemäßig in Smartphones verbaut. So wird es mit Apps kinderleicht, Informationen zu Blutdruck, Schlafphasen und zurückgelegten Schritten zu erhalten. Dabei übt der elektronische Helfer größeren Motivationsdruck aus als eine auf Papier geführte Liste. Denn auf Knopfdruck werden die Daten grafisch und im Zeitablauf dargestellt. Durch die Leichtigkeit, mit der Daten erfasst, verarbeitet und der eigene Fortschritt vor Augen geführt wird, entsteht der Eindruck, beobachtet zu werden – mehr noch als viele solcher Self-Tracking-Anwendungen ein echtes Wettbewerbselement einführen und Vergleiche mit anderen Nutzern zulassen. In vielen Fällen wird die Motivation auch durch Gamification zu steigern versucht, indem die verschiedenen Aktivitäten zur Optimierung des Lebens spielerisch verpackt werden.

Könnte die heute lediglich von einer kleinen Schar von Fitness- und Technikfreaks betriebene Selbstvermessung ein Blick in die Zukunft der Medizin sein? Immerhin machen die technischen Helfer Menschen Informationen über ihren Körper und ihre Gesundheit zugänglich, über die bislang höchstens Ärzte nach einer medizinischen Untersuchung verfügten. Die Aufzeichnung all der vom menschlichen Körper produzierten Zustände – Blutdruck, Blutzuckerwert, Puls, Stress- oder Glücksgefühl – demokratisiert das Wissen über Gesundheit und gibt dem Einzelnen die Möglichkeit, selbst zumindest Frühwarnindikatoren zu erkennen. Ein Leben in Nullen und Einsen eröffnet der Medizin die Chance, den Fokus stärker auf Überwachung zu legen und dadurch Krankheiten erst gar nicht entstehen zu lassen. Zudem lässt die digitale Vermessung ausgeklügeltere Schlüsse zu als dies mit der herkömmlichen Strichliste möglich wäre. Durch die immense Datenmasse können Korrelationen erkannt werden, auf die man sonst niemals gestoßen wäre: Wie wirken sich verschiedene Nahrungsmittel auf die Laune aus und unterstützen daher die Gewichtsabnahme? Welche Kombination an Medikamenten hält bestimmte Krankheiten am besten in Schach? In welcher Umgebung fühlen Asthmakranke sich am wohlsten? In Zeiten einer alternden Bevölkerung und steigender Gesundheitskosten könnte der technischen Überwachung nach dem Vorbild von Quantified Self größere Bedeutung zukommen. Menschen nehmen dann eine aktivere Rolle ein, Gesundheit zu erhalten und Krankheiten rechtzeitig zu erkennen. Möglicherweise wird das tägliche Prüfen der gesundheitlichen Eckdaten so selbstverständlich wie Zähneputzen.

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