Mittendrin


Wie werden wir in Zukunft Nachrichten konsumieren? Immersive Journalism wandelt den Zuschauer zum Teilnehmer und lässt ihn ins Geschehen eintauchen.


November 2015



Immer schon war dem Journalismus daran gelegen, Geschichten so packend wie möglich zu erzählen, das Publikum mitzureißen und nicht nur Verstand, sondern auch Gefühle anzusprechen. Dazu musste es gelingen, eine Verbindung herzustellen zwischen dem Betrachter und dem Geschehen. Journalisten strebten daher seit jeher danach, möglichst nah an den Ereignissen zu sein, um Lesern, Zusehern und -hörern ein möglichst naturgetreues Abbild des Berichteten zu verschaffen. Als Ideal galt dabei immer schon, ein „Eintauchen“ in die Geschehnisse zu ermöglichen.

Mit den Mitteln der modernen Technologie kommt man heute diesem Ideal ziemlich nahe. Immersive Journalism nennt sich die Darstellung von Nachrichten als virtuelle Realität. Mit Hilfe einer Virtual Reality Brille wird der Zuschauer direkt in die Szene versetzt, als sei er selbst Teil des Geschehens. Immersive Journalism versetzt den Zuschauer mitten in die Story und macht ihn zum Zeugen. Der Betrachter sieht die Handlung wie live vor sich ablaufen. Geschichten werden erlebbarer, emotional berührender, weil der Zuschauer mit mehr Sinnen beteiligt ist, Ablenkungen ausgeschaltet werden und News-Stories gleichsam unmittelbar erlebt werden. Betrachter wird zum Teilnehmer, indem er in eine virtuell erzeugte Szenerie eintritt. Darin wird er typischerweise als Avatar repräsentiert und kann sich im Szenario frei bewegen und die Welt aus der Ich-Perspektive des Avatars wahrnehmen. Weil Audio- und Videomaterial der echten Welt entstammt, entsteht der Eindruck, in eine reale Szene einzutauchen. Auch die Interaktionsmöglichkeiten mit dem Dargestellten verstärken das Gefühl, sich direkt an Ort und Stelle zu befinden. Anders als bei bloß übermittelten Nachrichten besteht zudem die Möglichkeit durch Interaktion mit den Elementen der virtuellen Umgebung über Details oder den Kontext der Story mehr zu erfahren. Anders als bei Newsgames strebt der Teilnehmer dabei nach keinem Ziel, er muss keine bestimmten Aktionen ausführen, um seine Position zu verändern und Fortschritte zu erzielen. Bei Immersive Journalism geht es lediglich darum, den Teilnehmer einer Erfahrung auszusetzen. Hierbei ist er von Ereignissen betroffen, hat aber nicht unbedingt die Mittel, die Situation zu beeinflussen. Zwar kann der Teilnehmer verschiedene Standpunkte einnehmen, jedoch entfaltet sich die Story davon unbeeinflusst; die Geschichte selbst wandelt sich durch sein Dabeisein nicht.

Zweifellos ist man durch das hautnahe Erleben der Handlung näher dran am Geschehen. Schließlich werden Sachverhalte nicht nur erzählt, sie werden durch die Teilnahme- und Interaktionsmöglichkeiten auch stärker emotionalisiert. Gerade Nachrichten aus fernen Ländern fühlen sich ja oft entrückt, wenig relevant für das eigene Leben an, sodass deren Bedeutung kaum fassbar wird. Geht mit Immersive Journalism nicht aber jegliche kritische Distanz verloren? Schon heute kommt kaum noch eine Nachricht ohne Bilder aus. Zwar ist die Produktion von VR-News heute noch zu aufwendig, doch kündigt sich Immersive Journalism bereits als nächster Schritt an im Kampf um ständig schärfere Inszenierungen, um ein zunehmend abgestumpftes Publikum über Emotionen zu erreichen.

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