Privatlehrer für alle!


Personalisierte Lernsysteme stellen das Ende der Fließband-Bildung in Aussicht und versprechen maßgeschneiderte Bildungserfolge. Doch sind die großen Verheißungen übereilt.


August 2017



Vor nunmehr beinahe drei Dekaden, im Jahr 1988, gab der Autor Isaac Asimov für Bill Moyers‘ Reihe „World of Ideas“ ein bemerkenswertes Interview, in dem er unter anderem auch computerbasiertes lebenslanges Lernen und Online-Bildung voraussagte. Asimov wendet sich gegen das gegenwärtige System der Massenbildung, in dem ein Curriculum für alle gleichermaßen gilt und zeichnet eine Zukunft, in der Lernende sich von zu Hause aus über Computer mit riesigen Bibliotheken verbinden und auf jede beliebige Frage Antworten erhalten, in der jeder lernen kann, wie es ihm beliebt. Computer, so sieht der hellsichtige Autor voraus, würden der „one-size-fits-all“-Bildung ein Ende bereiten und personalisierte Lernmöglichkeiten schaffen, die die eins-zu-eins-Beziehung zwischen Lernenden und Lehrenden herbeiführe.

Heute erscheint der technologische Fortschritt einen Stand erreicht zu haben, der Asimovs Utopie Wirklichkeit werden lässt. Eine ganze Reihe von Initiativen setzt sich zum Ziel, mit Hilfe datengetriebener Technologien Lernerfahrungen an individuelles Vorankommen, an persönliche Fähigkeiten, Interessen und Ziele anzupassen. Dabei existiert ein Sammelsurium unterschiedlicher Werkzeuge: Das Spektrum reicht von responsiven Systemen, die im Wesentlichen Zugang zu festgelegten Inhalten bieten und eine Anpassung der Benutzeroberfläche zulassen, dem Lernenden die Wahl eigener Lernpfade erlauben oder Lernmaterialen entsprechend dem über eine Datenanalyse festgestellten Leistungsniveau präsentieren. Adaptive Systeme gehen darüber hinaus und versuchen den Lernprozess flexibel zu unterstützen. Indem sie sich an das Verhalten und die Kompetenz eines Lernenden nicht nur durch einen vorgegebenen Entscheidungsbaum anpassen, sondern dabei Technologien des Maschinenlernens nutzen. Die am weitesten gehende Vision technologisch gestützten personalisierten Lernens besteht in intelligenten Tutorsystemen, die menschliche Lehrer nachahmen, proaktiv tätig werden und auf vielfältige Weise mit dem Lernenden interagieren, indem sie etwa aus den Interaktionen mit dem Lernenden ständig dazulernen, mit Hilfe von Gesichtserkennung Emotionen wahrnehmen und Lernprozesse entsprechend anpassen. Die „künstlichen Lehrer“ sollen imstande sein, individuelles Feedback und Tipps zu geben.

Zwar ist die Vision der intelligenten Tutorsysteme noch Zukunftsmusik – doch ist nicht denkbar, dass angesichts des rasanten technischen Fortschritts schon bald Lehrer ersetzen werden? Die Entwickler der Systeme selbst geben zu Protokoll, dass sie keineswegs daran arbeiten, Lehrer abzuschaffen. Die Systeme versprechen den größten Erfolg, wenn sie ergänzend eingesetzt werden. Noch weiß man wenig über die neuen Technologien, es fehlen empirische Belege, wie die Systeme tatsächlich auf das Lernen wirken.

Jedenfalls aber wird es für deren Einsatz selbständige, eigenverantwortliche Lernende brauchen. Wo immer Unterricht darauf setzt, Lernende dabei zu unterstützen, in deren eigenem Tempo voranzuschreiten, braucht es große Verantwortung für den eigenen Lernprozess. Lernenden werden Fähigkeiten des unabhängigen, eigenverantwortlichen Lernens, Konzentrationsvermögen und anhaltende Motivation abverlangt. Solche Eigenschaften bringen nicht alle Lernenden mit – und schon gar nicht die jüngsten unter ihnen.

Auch Sorge um Privatsphäre und Datenschutz umgibt diese neuen Technologien. Die Systeme setzen auf das Sammeln von immer mehr Daten und machen daher Entscheidungen nötig, wie diese Daten verwendet werden dürfen, mit wem sie geteilt und warum sie überhaupt erhoben werden. Zudem beziehen die Systeme zunehmend auch Daten mit ein, die außerhalb des Lernkontexts herrühren. Wenn aber Daten – beispielsweise durch Monitoring von Social Media – über Freizeitverhalten, Medienkonsum und dergleichen gesammelt werden, wirft das die Frage auf, wann die Grenze zu Überwachung und Kontrolle überschritten wird.

Ein weiteres Problem ist den Lernsystemen immanent: Damit die Software adaptiv agieren kann, muss sie darauf hinarbeiten, die Eintrittswahrscheinlichkeit eines bestimmten Ziels zu erhöhen. Aber welches Ziel wird den Systemen einprogrammiert? Die Sache wird nicht einfacher dadurch, dass sich Lernerfolge kaum durch ein einziges Ziel beschreiben lassen. Wie aber schafft es die Software, auf mehrere Ziele gleichzeitig hinzusteuern? Wie erfolgt die Abstimmung von Zwischenzielen und größeren Endzielen?

Mit ihrem Enthusiasmus nehmen die Technologien des personalisierten Lernens für sich in Anspruch, so scheint es, ein Problem zu lösen, das in Wirklichkeit kein technisches, sondern ein gesellschaftliches ist. Immer schon fiel es schwer, Lernerfolg zu messen und zu steuern, schlicht weil nicht eindeutig definiert ist, was Lern- und Bildungserfolg ausmacht. Worin besteht der Zweck des Lernens und der Bildung? Menschen fit zu machen für den Arbeitsmarkt? Ihnen ein größtmögliches Einkommen zu verschaffen? Auf ein humanistisches Bildungsideal hinzuwirken? Kritisch denkende Menschen hervorzubringen, die die Zivilgesellschaft stärken? Bevor nicht Einigkeit besteht über das Ziel, bleiben die Erfolgsversprechen der Lerntechnologien zwangsläufig hohl. Von der gesellschaftlichen Beantwortung der aufgeworfenen Fragen wird auch abhängen, inwieweit Asimovs Vision überhaupt relevant sein kann: Denn er malt ja nicht nur Lernwelten aus, in denen Lernende ihr eigenes Tempo gehen, sondern auch ihren eigenen Interessen folgen. Inwieweit werden Eltern, Schulbehörden und Arbeitgeber dies überhaupt als sinnvoll erachten?

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