Peer-to-Peer Sozialsystem


Mit dem Wandel der Arbeitswelt stößt das herkömmliche System sozialer Sicherung zunehmend an seine Grenzen. Liegt die Lösung im Peer-to-Peer-Prinzip?


Februar 2018



Mit einem Augenzwinkern illustriert das Harvard Innovation Lab im Video „Evolution of the Desk” die Auswirkungen der digitalen Transformation auf den Arbeitsplatz. Im Zeitraffer verschwinden von all den Gegenständen, die 1980 noch auf jedem gewöhnlichen Schreibtisch Platz fanden, bis zum Jahr 2014 die meisten davon. Wer benötigt noch Desktop Computer, Faxgerät, Globus, Rolodex, Radio, Bücher und Zeitungen, wenn es doch heute Software für jede erdenkliche Aufgabe gibt? Am Ende des Videos bleiben lediglich Laptop, Smartphone und eine Sonnenbrille übrig – denn die Sonne scheint auch auf die digitale Welt. Unübersehbar haben sich die meisten Arbeitsplätze innerhalb der vergangenen Jahrzehnte kräftig gewandelt. Aber selbstverständlich gehen die Veränderungen der Arbeitswelt durch die technologischen Entwicklungen weit darüber hinaus, materielle Alltagsdinge in Software aufgehen und Schreibtische aufgeräumter aussehen zu lassen.

Auch die Art und Weise, wie wir arbeiten, hat sich drastisch gewandelt. Maschinen werden intelligenter und befreien den Menschen von Arbeit. Roboter werden vielseitiger und arbeiten Hand in Hand mit dem Menschen. Jedermann steht es frei, über Internetplattformen weltweit Dienste anzubieten. So werden Aufgaben, die vormals von Unternehmen ausgeführt wurden heute von Selbständigen erbracht. Vor diesem Hintergrund wandeln sich auch Unternehmen, organisieren sich stärker als Netzwerke, lösen starre Grenzen zwischen innen und außen auf und arbeiten vermehrt in flexiblen Teams. Die Arbeitswelt wird digitaler, flexibler, globaler. In auffälligem Kontrast zu diesem rapiden Wandel steht ein weitgehend unverändertes Sozialsystem, das kaum Schritt halten kann. Immerhin reichen die Ursprünge der deutschen Sozialversicherungen bis in das Deutsche Kaiserreich zurück: Sie waren Antwort auf die soziale Not der Arbeiterschaft im Zuge der Industrialisierung. Immer augenfälliger wird, dass das System die neuen Realitäten kaum noch vernünftig zu fassen vermag.

Wenn schon fortwährend die digitalen Veränderungen unserer Lebenswelt mit dem Etikett „Revolution“ versehen werden, dann muss die Frage erlaubt sein, ob das Sozialsystem mit Reformen auskommt, die kaum etwas an der grundsätzlichen Logik ändern? Oder braucht es nicht auch im Bereich der sozialen Sicherung umstürzende Änderungen? Jedenfalls werden Lösungswege nötig sein, die die neuen Prinzipien unterstützen. Ein vielversprechender Ansatz könnte beispielsweise darin liegen, sich die Urformen von Versicherungen zum Vorbild zu nehmen: Ursprünglich wurden Risiken noch durch kleine, übersichtliche Zusammenschlüsse von Menschen auf Vertrauensbasis abgesichert. Auf unsere Zeit übertragen bedeutet dies, dass Menschen sich über Apps oder Webplattformen zu Peer-to-Peer-Versicherungen zusammenfinden könnten. So unterstützt beispielsweise das 2006 gegründete niederländische Unternehmen BroodFonds Mitglieder im Krankheitsfall. Ohne Einbindung eines traditionellen Versicherers tragen Privatpersonen das Risiko. Dazu werden Selbständige regional in Gruppen von 25 bis 50 Mitgliedern organisiert, wovon jedes einen monatlichen Fixbetrag in einen Fonds einbezahlt, aus dem im Falle der Arbeitsunfähigkeit ein Krankengeld bezahlt wird. Solidarität und Vertrauen entstehen durch persönliche Kontakte, zudem müssen neue Mitglieder von den übrigen akzeptiert werden. Nach dem gleichen Prinzip funktioniert die ebenfalls aus den Niederlanden stammende Peer-to-Peer-Versicherungsplattform CommonEasy, wobei hier Versicherungen für jeden beliebigen Bereich abgeschlossen werden können. In Ergänzung zu Krankenkassen positioniert sich die Solidargemeinschaft Artabana, die auf der Grundlage von Eigenverantwortung, Selbstbestimmung und Solidarität im Krankheitsfall einspringt.

Diese Beispiele illustrieren, wie sich soziale Gemeinschaften nach den Prinzipien der digitalen Welt bilden und Antworten auf aktuelle Herausforderungen finden: bottom up, dezentral und demokratisch. Auch wenn diese Form der Absicherung nicht alle Probleme des Sozialversicherungssystems lösen kann, so weist sie aber doch einen möglichen Weg, ergänzend für Abhilfe zu sorgen. Denn der Peer-to-Peer-Ansatz bietet Lösungen, die sich individuell, schnell und unbürokratisch den jeweiligen Lebenssituationen anpassen.

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