Die Konstruktion von Zufall


Das Internet gilt als Tor zu unendlichen Weiten freier Information – steckte nicht jeder Einzelne in einer Echokammer. Als Garanten der Informationsfreiheit helfen Bibliotheken dem Zufall auf die Sprünge.


November 2017



Um in der „Informationsflut“ des Cyberspace nicht unterzugehen, wird Information immer häufiger maßgeschneidert und kontextsensitiv serviert. Die Kehrseite einer solchen personalisierten Informationsumgebung ist eine zunehmend einseitige Informationsversorgung, das Gefangensein in der „Filter Bubble“, wie Eli Pariser die Echokammern der eigenen Überzeugungen und Interessen nannte. Der Blick schweift kaum noch über den eigenen Tellerrand, Zufallsfunde sind so gut wie ausgeschlossen, wenn jeder Nutzer immer wieder nur mit seiner eigenen Erfahrungswelt konfrontiert wird. Evgeny Morozov stellt fest, dass es das Internet nicht mehr gäbe, stattdessen könnten wir „ebensogut von einer Milliarde ‚Internet‘ sprechen – ein individuelles Netz für jeden Nutzer“. Man kann sich vorstellen, dass diese Entwicklung Gift für die Entstehung öffentlicher Räume als wichtige Grundlage für gesellschaftliches Leben wirkt, denn eine Vielzahl voneinander getrennter „Internets“ können kaum als Treffpunkt, als Ort für freie Meinungsäußerung und Informationsaustausch sowie als Entstehungsquelle eines „Wir-Gefühls“ dienen.

Betrachtet man umfassende Informationsversorgung als ureigene Bibliotheksaufgabe, dann tut sich hier ein wichtiges Betätigungsfeld für die Bibliothek des 21. Jahrhunderts auf. Die Filterblasen zum Platzen zu bringen, den Nutzer einer Informationsumgebung auszusetzen, die nicht durch Personalisierung und Vorauswahl eingeengt ist, wird Teil einer wichtigen bibliothekarischen Korrektivfunktion werden. Einerseits kann dies dadurch geschehen, die Informationskompetenz ihrer Nutzer zu stärken und andererseits ganz bewusst punktuell die Filtermethoden der Algorithmen auszuhebeln, indem Informationen nicht personalisiert und möglicherweise sogar bereichert um Zufallsfunde dargeboten werden. Wie aber kann man sich dies vorstellen?

Umberto Eco hat in seinem Essay „Die Bibliothek“ bereits im Jahr 1987 den Blick darauf gelenkt, dass die Bibliothek seit jeher ein Ort der Zufallsfunde ist. Den freien Zugang zu den Regalen hält der Schriftsteller für ein wesentliches Merkmal guter Bibliotheken und erklärt sogleich, weshalb: „Eines der Mißverständnisse, die den allgemeinen Begriff der Bibliothek beherrschen, ist die Vorstellung, daß man in eine Bibliothek geht, um sich ein bestimmtes Buch zu besorgen, dessen Titel man kennt.“ Natürlich komme dies vor, aber doch sei nach Eco die Hauptfunktion einer Bibliothek „die Möglichkeit zur Entdeckung von Büchern, deren Existenz wir gar nicht vermutet hatten“.

Das Umherstreifen zwischen den Regalen wird in immer mehr Bibliotheken freilich durch die Suche im elektronischen Katalog verdrängt. Erschwerend kommt noch hinzu, dass dabei die technologische Entwicklung immer mehr darauf hinwirkt, das herkömmliche Prinzip des „information pull“ durch „information push“ zu ersetzen. Das heißt: Smarte Bibliothekssysteme wissen bereits, was ein Nutzer sucht bevor dieser noch seinen Informationsbedarf artikuliert hat. Nicht nur im Internet, auch in der Bibliothek werden Algorithmen immer besser imstande sein, Inhalte kontextsensitiv und individualisiert zum Nutzer zu bringen. All dies mag die Effizienz der zielgerichteten Informationssuche erhöhen, wird aber das, was für Eco gute Bibliotheken ausmacht – Serendipität, also die Entdeckung von etwas, nach dem gar nicht gesucht wurde – zunehmend verhindern. Um nun den Zufall nicht vollends auszuschalten, liegt es auf der Hand, Versuche zu wagen, die Chance von Zufallsfunden systematisch zu erhöhen. Bei der Konstruktion von Serendipität – wie könnte es heute anders sein – behilft sich der moderne Mensch auch mit Software. Haben wir heute verlernt, ziellos umherzustreifen, dann können wir zumindest sicher sein, dass eine App zur Hand ist, die planvolles Verlorengehen ermöglicht. Für den Stadtspaziergeher erledigt dies die App Serendipitor: ein Navigationssystem für Spaziergänger, die auf dem Weg durch die Stadt den Nutzer mit der Nase auf Neues stoßen lässt. Nach dem Funktionsprinzip von Serendipitor könnten Bibliotheken Serendipität „konstruieren“: Nur wer vom intendierten Suchpfad abkommt, wird Neues entdecken.

Mit eben diesem Zweck ordnete der Kunsthistoriker Aby Warburg die Bücher seiner bemerkenswerten Bibliothek, die Anfang des 20. Jahrhundert als studentischer Handapparat ihren Anfang nahm und im Laufe der Jahrzehnte zu einer Kulturwissenschaftlichen Bibliothek mit über 60.000 Bänden anwuchs. Warburg verzichtete auf eine alphanumerische Reihung; stattdessen folgte die Erfassung und Aufstellung der Bücher dem „Gesetz der guten Nachbarschaft“, das Nutzer auf Bücher stoßen ließ, die sie zwar nicht gesucht hatten, aber womöglich dennoch gut brauchen konnten. Die überraschende Zusammenstellung von Büchern aus unterschiedlichen Fächern zeichnet Warburgs besondere Forschungs- und Denkwege nach und sollte Brücken zwischen den Disziplinen bauen und neue Fragen, Perspektiven und Erkenntnisse ermöglichen. Inspiriert von Warburgs Herangehensweise haben Megan Shaw Prelinger und Rick Prelinger in San Francisco 2004 eine Bibliothek gegründet, die sich dem Zufallsfund verschreibt und Besuchern zielloses Stöbern und die Entdeckung von Unbekanntem ermöglichen möchte. Dewey-Dezimalklassifikation und Zettelkatalog sucht man dort vergeblich. Nicht nur elektronische Kataloge, auch die Tendenz, dass immer mehr Regalfläche zugunsten von Computer- oder anderer gemeinschaftlich genutzter Flächen verschwindet, verhindert Zufallsfunde. Dem kann entgegengewirkt werden, indem beispielsweise Bücher an unorthodoxen Stellen platziert werden. Warum nicht eine Ausstellungsfläche inmitten des Computerbereichs einrichten und dadurch zielloses Stöbern fördern?

Um die Vorteile von Serendipität mit jenen der elektronischen Suche zu kombinieren, versuchen digitale Kataloge das Stöbern in Regalen zu imitieren. Das vom Library Innovation Lab der Harvard University entwickelte StackLife beispielsweise zeigt Nutzern Informationen, die ihnen ansonsten nur beim Streifen durch die Regale zugänglich wären: Etwa wird grafisch die Seitenzahl oder Größe eines Buches dargestellt, farblich wird gekennzeichnet, wie oft das Buch in der Vergangenheit entliehen wurde, mit Pfeiltasten kann durch den Buchstapel „navigiert“ werden. Dabei vereint das virtuelle Bücherregal Bücher aus den verschiedensten der unzähligen Harvard-Bibliotheken. Denn in der digitalen Bibliothekswelt muss man sich nicht auf ein Ordnungsprinzip beschränken, stattdessen ist es dem Nutzer überlassen, Bücher nach beliebigen Kriterien zu sortieren. Dieses schnelle Umsortieren nach individuellen Nutzerbedürfnissen wiederum, das es in den analogen Bücherregalen nicht gibt, könnte durch Augmented Reality-Anwendungen auch dort verwirklicht werden.

Auch im Bereich von Social Media versuchen viele Bibliotheken einen Ausgleich zu schaffen für verloren gegangene Serendipität. Zu nennen wären hier Projekte wie The Mechanical Curator der British Library Labs, das stündlich eine zufällig ausgewählte Abbildung aus den digitalen Beständen inklusive Metadaten und Link zur Quelle auf einem Blog postet. Bibliotheken wie etwa die Digital Public Library of America präsentieren mit Hilfe eines Twitter-Bots Inhalte aus ihren Beständen. Auf diese Art und Weise reicht die Sammlungspräsentation über die eigene Bibliothekssphäre hinaus und kommt dort an, wo sich Nutzer ohnehin aufhalten – immer häufiger im virtuellen Raum.

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