Willkommen in der Reputationsökonomie


Was China mit „Citizen Score“ vormacht, ist Vorgeschmack auf die neue Reputationsökonomie. Der gute Ruf wird zur Eintrittskarte in die digitale Gesellschaft.


Mai 2018



Big Brother lässt grüßen. China errichtet ein Reputationssystem, das für jeden Bürger einen „Citizen Score“ errechnet. Für sozial erwünschtes Verhalten gibt es Punkte zu verdienen, die wiederum der Schlüssel zu verschiedenen Annehmlichkeiten sind: günstige Kredite, Visa, eine Reise nach Europa. Die Frage ist natürlich nun, was ist „sozial erwünschtes Verhalten“ oder konkreter: Wofür werden die Punkte vergeben? Jubeläußerungen, ein gut gefülltes Konto und das richtige Einkaufsverhalten bringen das Punktekonto ins Plus. Punktabzüge wiederum muss derjenige hinnehmen, der sich regimekritisch äußert, Videospiele spielt oder Missstände anprangert. Dabei fließt nicht nur das eigene Verhalten in die Bewertung ein, sondern auch dasjenige von Freunden und Bekannten lässt den Score steigen oder fallen. Online-Händler Alibaba und das soziale Netzwerk Tencent geben Schützenhilfe und ebnen den Weg zu einem Überwachungssystem wie es sich George Orwell kaum besser erdenken hätte können. Paternalismus, Überwachung und sozialer Kontrolle sind damit Tür und Tor geöffnet.

Sicherlich ist eine solch weitreichende und flächendeckende, staatlich installierte und betriebene Überwachungsmaschinerie ein Schreckensszenario erster Güte. Allerdings hatte unsere Reputation immer schon Einfluss auf unseren Lebensverlauf, öffnete Türen und schloss andere: Ob wir einen Job bekommen, einen Kredit oder eine Wohnung, hängt hochgradig davon ab, wie andere Menschen uns wahrnehmen. Nie zuvor war dieser simple Mechanismus gesellschaftlichen Zusammenlebens derart schlagkräftig wie heute. Denn in unserer digitalen Zeit liegt eine Masse an Daten vor, die unser Verhalten und unsere Gewohnheiten jederzeit detailliert nachzeichnet – von Einkaufsverhalten und persönlichen Finanzen über private und berufliche Netzwerke bis hin zu unseren Aufenthaltsorten. Mit unglaublicher Geschwindigkeit, Treffgenauigkeit und Differenziertheit ist Technologie heute imstande, diese Datenmassen auszuwerten.

Damit eilt uns unsere Reputation immer schon voraus und wird zum Kapital, zu einer wertvollen Währung, ohne die wir in der digitalen Gesellschaft kaum noch Zugang finden. „Sozialer Kredit“ kommt demjenigen zu, der in den unterschiedlichen Rankingsystemen Topscores einfährt, wobei freilich für den Einzelnen intransparent bleibt, wie die Bewertung seiner Reputation zustande kommt. Bevor man künftig zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen, als Wohnungsmieter in Betracht gezogen oder an Sharing-Plattformen teilnehmen wird, kommt es darauf an, sein Selbst in Form zu bringen und bei einer anonymen Masse „anzukommen“.

Blogeinträge, Twitter-Tweets, Facebook-Posts, Videos auf YouTube, Kommentare unter Artikeln, das Rating von Restaurants und Hotels und vielerlei mehr Gelegenheiten des Feedbacks und der Bewertung sind heute nicht mehr wegzudenken aus der digitalen Sphäre. Das Web wird zunehmend nicht nur zu einem Raum der Interaktion, sondern zugleich der Reputationsakkumulation. Hierdurch entsteht Sozialkapital, das als Vertrauensgarant unerlässlich ist für das Funktionieren von Transaktionen im Netz. Als „Whuffie“ bezeichnet die kanadische Marketingberaterin Tara Hunt diesen sozialen Einfluss: Der Begriff stammt vom Science-Fiction-Autor Cory Doctorow, der in seinem ersten Buch „Down and Out in the Magic Kingdom“ eine Währung namens „Whuffie“ ersann, die die soziale Stellung eines jeden Einzelnen in der Gesellschaft ausdrückt und durch respektvollen Umgang mit anderen verdient wird. Doctorows aus dem Jahr 2003 stammende Reputationswährung beschreibt also gut, wie heute immer stärker alternative Währungen, wie eben Reputation oder auf Aufmerksamkeit, neben das traditionelle Zahlungsmittel Geld treten. Der digitale Raum, wie wir ihn heute kennen, ist kaum vorstellbar ohne Reputation als Online Währung und Schmiermittel für diverse Transaktionen.

Angesichts der Bedeutung von Reputation als Währung ist es daher kaum verwunderlich, dass ein regelrechter Bewertungswahn um sich greift: Bei den unterschiedlichsten Gelegenheiten wird man aufgefordert Bewertungen abzugeben- nach der Fahrt mit Uber, nach einem Produktkauf oder einer Hotelübernachtung. Das Bewerten sämtlicher Services und Erfahrungen hat sich derart in unser Leben geschlichen, dass es nur einen Steinwurf entfernt erscheint, das Prinzip auch auf Mitmenschen auszudehnen. Werden wir also bald Freunden und Kollegen Sternchenbewertungen zukommen lassen, so wie wir den Plattformarbeiter, der die Pizza liefert oder das Regal zusammenschraubt, bewerten? Werden Stärken, aber wahrscheinlich zu einem Großteil eher Schwächen und Macken von jemandem damit schonungslos im Internet ausgebreitet und für jedermann sichtbar sein? Mit der App Peeple sollte exakt dies möglich sein: Die App lässt Nutzer Freunde, Familienmitglieder, Nachbarn, Vorgesetzte und Kollegen – ausnahmslos jedermann, ohne dessen Zustimmung – bewerten. Die Beziehungen zu anderen, seien sie beruflicher, freundschaftlicher oder romantischer Natur, sollen nach diesen Vorstellungen in ein Sternchenschema gepresst werden. Dazu noch sind ausformulierte „Reviews“ möglich – wie man dies von Restaurantbewertungen kennt. Zwar ist die App nach scharfer Kritik nur in abgespeckter Form verfügbar – so können etwa nur angemeldete Nutzer bewertet werden, die dazu noch ein Veto einlegen können –, doch ist ein erster Schritt, dem Bewertungsparadigma den Weg in den zwischenmenschlichen Bereich zu ebnen, damit getan. Und natürlich bleiben solche Bewertungen nicht im Reich des Internets, sondern zeigen ihre Auswirkungen im echten Leben. Es ist leicht nachvollziehbar, dass allein schon die pure Möglichkeit, Ziel einer solchen Bewertung zu werden, sich auf das Verhalten auswirkt. Zudem wird jene Errungenschaft der Moderne, eine Differenzierung in gesellschaftliche Teilsysteme herzustellen, rückabgewickelt. Die Transparenz schafft eine Identität, die für jedermann – Freund oder Chef gleichermaßen – sichtbar ist; in den verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen unterschiedliche Rollen relativ unabhängig voneinander auszuüben, ist somit verwehrt.

Eine solche Aufweichung der Rollengrenzen lässt das Individuum aber mit der Schwierigkeit zurück, wie der Prozess der Reputationsbildung überhaupt anzugehen ist. Denn eine solche aufzubauen, beginnt ja zuallererst mit der Frage: Reputation wofür? Je nach Kontext wird der Einzelne eine andere Reputation für erstrebenswert halten und danach ausrichten, wie man sich präsentiert. Da solch unterschiedlich sichtbare Reputationen – eine für die Arbeit, eine andere für den Tennisclub – aber unter den Bedingungen zusammenwachsender Teilsysteme nicht zu erreichen sind, wird sich jeglicher Reputationsaufbau mehr und mehr mit undifferenziertem Erreichen von Aufmerksamkeit begnügen. Dazu noch: Wird in den persönlichen Bereich jene Unsichtbarkeit durch Nichtbewertung einkehren, wie wir sie aus dem kommerziellen Umfeld kennen? Bei vielen Gelegenheiten erscheint es unvorteilhafter, keine Bewertung zu haben als ein schlechte – wenn etwa Reisende dazu tendieren ein Hotel mit mangelhafter Bewertung eher zu buchen als ein solches ohne Bewertung oder wenn ein Jobkandidat ohne Profil in sozialen Netzwerken erst gar nicht in Betracht gezogen wird. Reputation ist heute alles, und können wir heute nicht auf die quantifizierte Reputation von etwas oder jemand zu greifen, ist es, als ob dieser nicht existierte.

Teilen

Weitere Artikel dieser Ausgabe:

f/21 Quarterly liefert Ihnen 4-mal jährlich frisches Zukunftswissen direkt in Ihr Postfach.
Registrieren Sie sich jetzt kostenlos!