Kopfkino


Wird im interaktiven Kino bald jeder Zuschauer seinen eigenen Film sehen?


Mai 2018



Einen Film anzusehen bedeutete bislang: zurücklehnen und die Geschichte auf sich wirken lassen. Bald schon könnte jeder einzelne Zuschauer zu seinem eigenen Regisseur werden. Dass Kino und Fernsehen interaktiv werden und Zuschauer den Verlauf einer Filmhandlung bestimmen, gilt schon lange als Zukunftsmusik in puncto Film. Seit bereits im Dezember 1991 die Hauptprogramme ARD und ZDF des deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehens einen ersten Schritt in eine solche Zukunft des Films getan haben, ist nicht nur viel Zeit vergangen, auch die Technik hat große Fortschritte gemacht. Damals wurden zwei Versionen des Films „Mörderische Entscheidung“ parallel in den beiden Programmen gezeigt. Der Zuschauer konnte hin und her zappen und bekam dieselbe Geschichte zeitlich perfekt aufeinander abgestimmt aus zwei unterschiedlichen Perspektiven gezeigt – aus jener der weiblichen und jener der männlichen Hauptfigur. Später gab es im deutschen Fernsehen dann noch den einen oder anderen Versuch, die Zuseher per Telefonabstimmung den Verlauf von Filmen bestimmen zu lassen.

Wurde Interaktivität also einst per Fernbedienung oder Telefon hergestellt, so lassen Apps heute ungleich größere Spielräume zu. Weil der Zerstückelung eines Films in Einzelsequenzen theoretisch keine Grenzen gesetzt sind, kann sich mittels App der Zuseher an Abzweigungen immer wieder für einen der vorgegebenen Handlungsstränge entscheiden und so einen eigenen Pfad durch die Geschichte wählen. Bei dieser Form von Interaktivität ist zu beobachten, wie die Sparten Film und Computerspiel verschmelzen. Wurden in ihren jungen Jahren vor allem Videospiele von den etablierten Medien beeinflusst, so unterliegen umgekehrt heute zunehmend Filme dem Einfluss von Videospielen: wenn der Zuschauer etwa Rätsel lösen muss und durch die gewählte Antwortmöglichkeit dann der Verlauf der Geschichte bestimmt wird.

Mit Künstlicher Intelligenz sollen Filme nun interaktiv werden, ohne dass der Zuschauer noch irgendwelche Knöpfe drücken muss. Richard Ramchurn, Student der englischen Universität Nottingham und Filmemacher, kürt in dem 27-minütigen Film „The Moment“ die Kraft der Gedanken der Zuseher zum Regisseur. Dabei misst ein Headset die elektrische Gehirnaktivität und je nachdem, was im Kopf gerade vor sich geht, wandeln sich Szenen, Musik und Animationen. Ramchurn misst die Aufmerksamkeit des Zuschauers und wann immer diese fällt – gewöhnlich etwa alle sechs Sekunden – bekommt dieser durch eine spezielle Software eine neue Einstellung vorgesetzt. 101 Billionen verschiedene Varianten sollen möglich sein. Nicht nur ist dabei recht unwahrscheinlich, dass jemand bei wiederholtem Anschauen jemals wieder denselben Film sieht, auch werden zwei Personen nie einen identischen Film sehen. Sind beidseitige Feedbackschleifen die Zukunft des Kinos? Nicht nur verlässt der Zuschauer den Kinosaal mit einem bestimmten, durch den Film hervorgerufenen Gefühl, gleichzeitig ändert sich der Film durch das Gefühl des Zuschauers.

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