Big Brother im Büro


Nie war es für Unternehmen einfacher, ihre Mitarbeiter im Blick zu behalten. Überwachungstechnologien zielen auf den gläsernen Angestellten.


Mai 2017



Das Panopticon, ein vom britischen Philosophen Jeremy Bentham ersonnenes Konzept zum Bau von Gefängnissen, ermöglicht die permanente und totale Überwachung einer großen Zahl von Gefangenen durch einen einzigen Aufseher. Denn während der Wärter im Dunkel eines mittig stehenden Turms schlecht auszumachen ist, erscheinen die Gefangenen in den ringförmig umliegenden Zellen für den Wärter im Gegenlicht gut sichtbar als Silhouetten.

Das Bemerkenswerte an Benthams Konzept ist, dass die bloße Möglichkeit, überwacht zu werden, bereits das Verhalten beeinflusst. Eben dieser Umstand führt zu völlig neuen Möglichkeiten für Unternehmen, ein Auge auf Mitarbeiter zu werfen. Daher überrascht es nicht, dass das 2015 eröffnete voll vernetzte Amsterdamer Bürogebäude The Edge erstaunliche Parallelen zu Benthams Konzept aufweist: Dem mit rund 40.000 Sensoren ausgestatteten Gebäude bleibt nichts verborgen.

Per Smartphone-App lassen sich Helligkeit und Temperatur am Arbeitsplatz regeln. Aktionen, Präferenzen und Gewohnheiten werden aufgezeichnet, um sodann selbsttätig auf die individuellen Bedürfnisse zu reagieren. Es gibt kaum etwas, was The Edge nicht über die Angestellten wüsste – wie sie ihren Kaffee gerne trinken und wann sie das stille Örtchen aufgesucht haben. Daten zur Gebäudenutzung sind jederzeit in Echtzeit einsehbar und sind die Basis erheblicher Energiesparmöglichkeiten – wenn etwa Freitagnachmittag eine Etage leer ist und daraufhin Beleuchtung und Temperatur heruntergefahren werden. Erklärtes Ziel des Hightech-Bürohauses ist es, in puncto Nachhaltigkeit neue Maßstäbe zu setzen. Gleichzeitig gibt das Gebäude einen beunruhigenden Ausblick auf die Zukunft der Büroarbeit.

Es mehren sich Beispiele von Unternehmen, die immer größere Schritte hin zum gläsernen Mitarbeiter unternehmen. Was Bentham mit einzigartiger Architektur schaffte, ist heute eine Sache der Technik, die stets alles im Blick behält: Fitnesstracker messen Pulsschlag und Bewegungen, Kameras führen Iris-Scans durch und schließen auf Müdigkeit, Stimmerkennungssoftware weiß um die Freundlichkeit gegenüber Kunden und unter die Haut implantierte Microchips ersetzen Schlüssel oder elektronische Zugangskarten.

So ließ etwa die britische Tageszeitung The Telegraph Anfang 2016 Sensoren zur Messung von Wärme und Bewegung unter den Schreibtischen ihrer Journalisten anbringen, um Aufschluss über die Anwesenheit von Mitarbeitern zu erhalten. Nach Bekanntwerden der Überwachung und Protest der Mitarbeiter wurden die Geräte wieder entfernt. Auch mit Sensoren bestückte Geräte, die am Körper getragen werden – so genannte Wearables – werden im Arbeitsleben immer beliebter. Die Supermarktkette Tesco stattete unter dem Deckmantel der Produktivitätssteigerung Lagermitarbeiter mit Armbändern aus, die die Rückverfolgung der transportierten Güter erlauben. Dabei ist der Grat zur Überwachung der Arbeitsleistung der Mitarbeiter natürlich äußerst schmal.

Noch einen Schritt weiter gehen Produkte, die Arbeitgebern ein physiologisches Monitoring ermöglichen. Die US-amerikanische Firma Equivital stellt Gurte zur Messung von Herzschlag, Stresslevel, Atmung, Hauttemperatur und Körperposition her. Damit gelingt, was bislang nur aus dem Leistungssport bekannt ist: Zwischen der Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter und den Unternehmenszielen wird eine direkte Verbindung hergestellt. Weil beispielsweise Stress Entscheidungen beeinflusst, könnten solche Systeme etwa als Frühwarnsystem bei Wertpapierhändlern eingesetzt werden.

Solche Szenarien tarieren das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Mitarbeiter völlig neu aus und werfen eine Reihe von Fragen auf: Wo verläuft die Grenze zwischen Produktivitätssteuerung und Mitarbeiterüberwachung? Welche Daten dürfen Chefs sammeln? Kann es in unserem technologischen Zeitalter überhaupt noch Privatheit geben? Sieht so tatsächlich die Zukunft der Arbeit aus?

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